„Die Mutter meines Vaters war eine großartige Geschichtenerzählerin. Sie stammte aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Münchengrätz, ihr Vater war Hufschmied gewesen und betrieb neben der Schmiede eine Fuhrmannsherberge, wo die Lausitzer Fuhrleute auf der Fahrt nach Prag übernachteten. An langen Abenden muss da viel erzählt worden sein, und die Großmutter Dora hat als Kind diesen Erzählungen fleißig zugehört. Deshalb steckte sie bis ins hohe Alter voller Geschichten, die sie auf kunstvolle Weise zu variieren und auszuspinnen verstand und meinem Bruder und mir erzählte. Es waren Geschichten nach unserm Herzen: lustig und bunt, wie Kinder sie mögen, voll unerwarteter Wendungen, häufig an überlieferte Stoffe und Episoden anknüpfend – und doch frei dahinfabuliert, nach Laune und Gutdünken der Erzählerin so oder so sich fortspinnend, bis sie nach mancherlei kühnen Schleifen und listig herbeigeführten Verwirrungen doch noch zu einem guten Ende kamen.
Nun war meine Großmutter eine bescheidene Frau, weshalb sie uns Kindern weismachte, alles, was sie uns da erzähle, stamme aus einem dicken alten Geschichtenbuch. Heute weiß ich: Dieses Geschichtenbuch meiner Großmutter, das es in Wirklichkeit überhaupt nicht gegeben hat, ist das wichtigste aller Bücher für mich, mit denen ich je im Leben Bekanntschaft gemacht habe.“
(Otfried Preußler, 1972)