'Erntelager Geyer'
Verlag ‚Junge Generation‘, Berlin – Lichterfelde, o.J. (1944),
141 Seiten, Einband und 9 Zeichnungen von Ferdinand Spindel

Das Buch erzählt die Abenteuer einer Gruppe von Hitlerjungen während ihres Ernteeinsatzes im sogenannten Sudetenland im Sommer 1940. In einer Rezension von 1944 beschreibt der Volkskundler Dr. K.W. Fischer ‚Erntelager‘ wie folgt:
„Der Verfasser, ein junger, jetzt im Felde stehender Reichenberger lenkte bereits durch einige Gedichte die Aufmerksamkeit auf sich. Und dieses Buch schrieb er mit 17 Jahren. In frischer, anschaulicher Darstellung erzählt er hier von dem Kriegs- Ernteeinsatz einer Schar Jungens in Wernersdorf, von ihrem erstmaligen Erleben des Bauerntums, wie sie es bisher kaum kannten. Fröhlich und guten Willens packen sie jede Arbeit an, freilich mit der baldigen Erkenntnis, dass diese nicht immer leicht sei. Aber sie sind stolz darauf, mit allen Schwierigkeiten fertig zu werden und richtige Männerarbeit zu leisten. Den Ausgleich zu der harten Bauernarbeit bildet das Lagerleben mit der sportlichen Ertüchtigung, mit Geländespielen, Heimabenden und manchen lustigen Streichen. Eben diese schöne Kameradschaft des Lagers auch hilft manchem von ihnen, bei der schweren Bauernarbeit durchzuhalten. In seiner Schlichtheit der Gestaltung und des Inhalts ist dieses Buch ein wertvoller Beitrag zum Bilde unserer Jugend von heute.“

Die Erzählung ist im Duktus der Zeit geschrieben, einzelne Textpassagen werden von manchen Forscher:innen nationalsozialistisch interpretiert. Das Manuskript verfasst Preußler als 17- jähriger im Winter 1940/41. Erst Jahre später, 1944, wird das Buch veröffentlicht. Preußler befindet sich da bereits seit 2 Jahren bei der Wehrmacht bzw. an der Ostfront.

Über die Höhe der Auflage ist nichts bekannt. Sie dürfte angesichts des fortgeschrittenen Krieges und der damit verbundenen Papierknappheit niedrig gewesen sein. Nach Kriegsende steht das Buch 1946 in der sowjetischen Besatzungszone auf der ‚Liste der auszusondernden Literatur‘. Über die tatsächliche Vernichtung liegen keinerlei Erkenntnisse vor.

Das Jugendbuch war Teilen der Literatur- und Geschichtswissenschaften schon länger bekannt, aber man sah keinen Anlass, sich näher mit dem Text zu befassen oder den Autor dazu zu befragen. Bereits 1995 wird es in dem zweibändigen Handbuch „Kinder- und Jugendliteratur 1933–1945“ als Werk Preußlers aufgenommen. Ungeachtet dessen ‚entdeckt‘ der Historiker Peter Becher 2015 ‚Erntelager Geyer‘ und widmet ihm einen 4-seitigen Aufsatz. Wenig später veröffentlicht auch der Literaturwissenschaftler und langjährige ORF-Mitarbeiter Murray G. Hall einen kurzen Beitrag dazu. Beide Autoren sehen in Preußlers Jugendwerk eine Verklärung des Bauernstandes und Begeisterung für den Nationalsozialismus. Hall geht sogar so weit, dass er von „Übernahme der Blut- und Bodenideologie“ spricht. Dabei beziehen sich beide Autoren im Wesentlichen auf zwei Textpassagen. Eine eingehende Beschäftigung mit Text, Genese und dem historischen Kontext unterbleibt.
Der Literaturwissenschaftler und Lehrstuhlinhaber an der Universität Gießen Prof. Carsten Gansel hat sich 2019 ausführlich mit ‚Erntelager Geyer‘ auseinandergesetzt und 2022 in einem über 500 Seiten umfassenden Grundlagenwerk Kindheit und Jugend des Autors umfassend bearbeitet. Auch Tilmann Spreckelsen beleuchtet das Jugendbuch in seiner 2023 erschienen Preußler-Gesamtbiografie. Beiden Wissenschaftlern wurden für ihre Forschungsarbeiten sämtliche Archivmaterialien zur Verfügung gestellt.

Mit einer Fülle neuer Erkenntnisse zeichnet Gansel nicht nur die Genese des Buches nach, er stellt es auch in seinen historischen Kontext, einschließlich der besonderen Situation der Sudetendeutschen seit den 1920er Jahren und widerspricht einer Übernahme der Blut- und Bodenideologie des 17-jährigen Autors. Obwohl Gansel nachweisen kann, dass Preußler mit 17 Jahren in die NSDAP eintreten wollte, verortet er die Handlungen und Gedankenwelt der Jungen im Erntelager im adoleszenztypischen Verhalten innerhalb der Jungendkultur, die noch in der Tradition von Turnerschaft und Bündischer Jugend steht. Elemente wie Männlichkeit, Kameradschaft, Fahnen, Führer und Gefolgschaft aber auch Arbeit und Bauerntum spielen dabei eine wesentliche Rolle.
Preußler war Mitglied in der Jungturnerschaft. Auch als diese im Zuge der Gleichschaltung in die Hitlerjugend überführt wurde, bliebt er weiter aktiv.

Preußler leugnet nicht, in seinen Jugendjahren den Verheißungen des NS-Regimes in Bezug auf die Sudetendeutschen geglaubt zu haben und den Nationalsozialisten nahegestanden zu sein. Zu seinem Jugendbuch ‚Erntelager Geyer‘ äußert er sich aber nie, genauso wenig wie zu seinen frühen Arbeiten als Lyriker und Dramatiker. Preußler setzt sich mit seiner Vergangenheit im Nationalsozialismus vor allem literarisch auseinander. Am deutlichsten geschieht das in seinem Hauptwerk Krabat, an dem er über 10 Jahre arbeitet und darin seine eigene ‚Verführung mit der dunklen Macht‘ aufarbeitet.


Quellen:
- Norbert Hopster, Petra Josting, Joachim Neuhaus: Kinder- und Jugendliteratur 1933–1945. Ein Handbuch. Band 1: Bibliographischer Teil mit Registern.Verlag J. B. Metzler, 2001, Sp. 930, 1502, 2170 (Nr. 4173). Norbert Hopster, Petra Josting, Joachim Neuhaus: Kinder- und Jugendliteratur 1933–1945. Ein Handbuch. Band 2: Darstellender Teil. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2005, Sp. 40, 151, 159, 180, 254, 256.
- Peter Becher: Ein unbekannter Roman von Otfried Preußler. In: Sudetenland – Europäische Kulturzeitschrift, Heft 2/2015, S. 247–251. Murray G. Hall: Ein Phantombuch? Otfried Preußlers Hitlerjugend-Roman Erntelager Geyer. In: Stifter Jahrbuch, 30/2016, S. 135–147.
- Carsten Gansel: Kindheit und Jugend erfahren, erinnern und erzählen – Zu Otfried Preußlers literarischen Anfängen. In: Gansel, Ächtler, Kümmerling-Meibauer (Hg.): Erzählen über Kindheit und Jugend in der Gegenwartsliteratur. Edition Gegenwart – Beiträge zur neuesten deutschsprachigen Literatur und Kultur, Band 3, 2019, S. 205 – 245;
- Carsten Gansel: Kind einer schwierigen Zeit: Otfried Preußlers frühe Jahre. Berlin 2022
- Tilman Spreckelsen: Otfried Preußler. Ein Leben in Geschichten. Thienemann-Esslinger Verlag, Stuttgart 2023