'Erntelager Geyer'
Verlag ‚Junge Generation‘, Berlin – Lichterfelde, o.J. (1944),
141 Seiten, Einband und 9 Zeichnungen von Ferdinand Spindel

Als 17jähriger schreibt Preußler im Winter 1940/41 das Manuskript zu seinem Jugendbuch ‚Erntelager Geyer‘. Erst Jahre später, 1944, wird das Buch veröffentlicht. Wie stark das Manuskript zwischen 1941 und 1944 lektoriert bzw. im ideologischen Sinn verändert worden ist, dazu gibt es keine eindeutigen Belege. Üblicherweise erfolgten derartige Eingriffe zeitnah zur Veröffentlichung.
Da Preußler ab März 1942 bei der Wehrmacht und ab April 1943 an der Ostfront im Einsatz ist, ist seine Beteiligung am Lektorat nicht anzunehmen. Auffällig ist, dass sich im Wesentlichen an zwei Textstellen (S. 30 und S. 70) nationalsozialistische Bezüge feststellen lassen. Allerdings quasi als Texteinschübe, mit völlig anderem Duktus und anderer Terminologie als im gesamten übrigen Text. Hier scheint der Eingriff eines Lektors mehr als wahrscheinlich. Zudem hat Preußler kurz bevor er das Manuskript zu Erntelager Geyer verfasst – sozusagen als Vorgriff – eine zweiseitige Geschichte veröffentlicht, die einige abenteuerlichen Episoden eines Jungzuges im Sommerzeltlager zum Inhalt hat. Obwohl der Titel ‚Lieber Soldat!‘ lautet, finden sich in dem Text keinerlei Bezüge zur NS-Ideologie.
In einer Rezension von 1944 beschreibt der Volkskundler und Lehrer Dr. K.W. Fischer ‚Erntelager‘ wie folgt:
„Der Verfasser, ein junger, jetzt im Felde stehender Reichenberger lenkte bereits durch einige Gedichte die Aufmerksamkeit auf sich. Und dieses Buch schrieb er mit 17 Jahren. In frischer, anschaulicher Darstellung erzählt er hier von dem Kriegs- Ernteeinsatz einer Schar Jungens in Wernersdorf, von ihrem erstmaligen Erleben des Bauerntums, wie sie es bisher kaum kannten. Fröhlich und guten Willens packen sie jede Arbeit an, freilich mit der baldigen Erkenntnis, dass diese nicht immer leicht sei. Aber sie sind stolz darauf, mit allen Schwierigkeiten fertig zu werden und richtige Männerarbeit zu leisten. Den Ausgleich zu der harten Bauernarbeit bildet das Lagerleben mit der sportlichen Ertüchtigung, mit Geländespielen, Heimabenden und manchen lustigen Streichen. Eben diese schöne Kameradschaft des Lagers auch hilft manchem von ihnen, bei der schweren Bauernarbeit durchzuhalten. In seiner Schlichtheit der Gestaltung und des Inhalts ist dieses Buch ein wertvoller Beitrag zum Bilde unserer Jugend von heute.“
Über die Höhe der Auflage ist nichts bekannt. Sie dürfte angesichts des fortgeschrittenen Krieges und der damit verbundenen Papierknappheit niedrig gewesen sein.
Nach Kriegsende steht das Buch 1946 in der sowjetischen Besatzungszone auf der ‚Liste der auszusondernden Literatur‘. Über die tatsächliche Vernichtung liegen keinerlei Erkenntnisse vor.
Fest steht, dass sich bis heute nur einige wenige Exemplar erhalten haben, vor allem in großen Bibliotheken. Auch auf dem Markt tauchen nur vereinzelt Exemplare auf. Dies stützt die These der sehr geringen Auflage.
Später findet Preußlers frühes Jugendbuch unter anderem Eingang in mehrere Standardwerke.
Ungeachtet dessen ‚entdeckt‘ der Historiker Peter Becher 2015 ‚Erntelager Geyer‘ und widmet ihm einen 4-seitigen Aufsatz. Wenig später veröffentlicht auch der Literaturwissenschaftler und langjährige ORF-Mitarbeiter Murray G. Hall einen kurzen Beitrag dazu.
Beide Autoren sehen in Preußlers Jugendwerk eine Verklärung des Bauernstandes und Begeisterung für den Nationalsozialismus. Hall geht sogar so weit, dass er von „Übernahme der Blut- und Bodenideologie“ spricht. Dabei beziehen sich beide Autoren im Wesentlichen nur auf zwei kurze Textpassagen, auf die bereits im Zusammenhang mit der Lektoratsproblematik verwiesen wurde. Eine eingehende Beschäftigung mit Text, Genese und dem historischen Kontext unterbleibt.
In den sozialen Medien werden derzeit isoliert und aus dem Kontext extrahierte Textstellen in pseudowissenschaftlicher und populistischer Weise verbreitet und eine ‚ideologische Zuordnung‘ konstruiert, die dem Jugendbuch in keiner Weise gerecht wird.
Diese tendenziösen Versuche einer Delegitimierung werden umso deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass der Literaturwissenschaftler und Lehrstuhlinhaber an der Universität Gießen Prof. Carsten Gansel sich schon 2019 ausführlich mit ‚Erntelager Geyer‘ auseinandergesetzt und 2022 in einem über 500 Seiten umfassenden Grundlagenwerk Kindheit und Jugend des Autors umfassend bearbeitet hat.
Preußler selbst hat sich zu ‚Erntelager Geyer‘ ebenso wenig geäußert wie zu seinen vielfältigen Arbeiten als Lyriker und Dramatiker in seiner Frühzeit.
Mit einer Fülle neuer Erkenntnisse zeichnet Carsten Gansel nicht nur die Genese des Buches nach, er stellt es auch in seinen historischen Kontext, einschließlich der besonderen Situation der Sudetendeutschen seit den 1920er Jahren und widerspricht vehement einer Übernahme der Blut- und Bodenideologie des 17 jährigen Autors. Vielmehr verortet Carsten Gansel die Handlungen und Gedankenwelt der Jungen im Erntelager im adoleszenztypischen Verhalten innerhalb der Jungendkultur, die noch in der Tradition von Turnerschaft und Bündischer Jugend steht. Elemente wie Männlichkeit, Kameradschaft, Fahnen, Führer und Gefolgschaft aber auch Arbeit und Bauerntum spielen dabei eine wesentliche Rolle.
All die Jugendorganisationen gingen im NS-Staat zwangsweise in der Hitler Jugend auf.

Preußler hat sich zu seiner Jugend im Nationalsozialismus, entgegen vielfachen Behauptungen, eindeutig geäußert, und zwar literarisch. Krabat ist das klare Ergebnis seiner persönlichen Aufarbeitung jener Zeit. Nicht zufällig wurde es zu seinem wichtigsten Werk und nebenbei zum Klassiker der deutschen Literatur.

Quellen:
- Otfried Preußler: ‚Lieber Soldat! In: Sudetendeutsche Briefe an Wehr- und Werkmänner, 1940, Heft 6, S. 12-14.
- Norbert Hopster, Petra Josting, Joachim Neuhaus: Kinder- und Jugendliteratur 1933–1945. Ein Handbuch. Band 1: Bibliographischer Teil mit Registern.Verlag J. B. Metzler, 2001, Sp. 930, 1502, 2170 (Nr. 4173). Norbert Hopster, Petra Josting, Joachim Neuhaus: Kinder- und Jugendliteratur 1933–1945. Ein Handbuch. Band 2: Darstellender Teil. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2005, Sp. 40, 151, 159, 180, 254, 256.
- Peter Becher: Ein unbekannter Roman von Otfried Preußler. In: Sudetenland – Europäische Kulturzeitschrift, Heft 2/2015, S. 247–251. Murray G. Hall: Ein Phantombuch? Otfried Preußlers Hitlerjugend-Roman Erntelager Geyer. In: Stifter Jahrbuch, 30/2016, S. 135–147.
- Carsten Gansel: Kindheit und Jugend erfahren, erinnern und erzählen – Zu Otfried Preußlers literarischen Anfängen. In: Gansel, Ächtler, Kümmerling-Meibauer (Hg.): Erzählen über Kindheit und Jugend in der Gegenwartsliteratur. Edition Gegenwart – Beiträge zur neuesten deutschsprachigen Literatur und Kultur, Band 3, 2019, S. 205 – 245;
- Carsten Gansel: Kind einer schwierigen Zeit: Otfried Preußlers frühe Jahre. Berlin 2022